Comments by "Günther Berger" (@guntherberger1238) on "Thomas Gast stellt sich euren Fragen !" video.
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Putin macht die Kooperation mit der Orthodoxen Kirche zu einem tragenden Pfeiler seiner Innenpolitik. Fotos von Putin mit dem Patriarchen in Kirchen, Klöstern, auf Militärparaden und andernorts gehören heute zum politischen Alltag. Der Episkopat des Moskauer Patriarchats ist in das diplomatische Protokoll eingebunden und hat gegenüber anderen Religionsgemeinschaften einen bevorzugten Platz. Metropolit Kirill von Smolensk, Außenminister der ROK, und andere Geistliche sind als Referenten in den Diplomatenschulen gefragt. An einer Konferenz Religion und Diplomatie 2001 unterstrich Patriarch Aleksij in der Eröffnungsrede: „Ich möchte dem Außenministerium der Russischen Föderation meine Anerkennung aussprechen dafür, dass es sich stets hilfsbereit zeigt, die Probleme der orthodoxen Gemeinden, Priester und Gläubigen im Ausland lösen zu helfen.“
Staatsgebäude, Staatslimousinen, Büros, Schlachtschiffe, Kasernen, Kampfflugzeuge, Atomwaffen werden von Geistlichen gesegnet. Regimenter stehen vor dem Patriarchen Spalier. Überhaupt spielen Militär und Kirche im öffentlichen Leben Russlands heute eine große Rolle. So erklärte Metropolit Kirill schon 1992, dass die Russische Kirche immer auch für die sowjetischen Streitkräfte gebetet habe.1995 bestimmte die ROK einen für die Streitkräfte zuständigen Bischof; seit 1993 schon gibt es Militärgeistliche. Diese haben allerdings keine seelsorgerliche, sondern „patriotische“ Aufgaben: Sie zelebrieren Liturgien und verschönern militärische Anlässe mit kirchlichem Prunk. Kritische Beobachter meinen, dass diese Militärgeistlichen de facto die sowjetischen Politoffiziere ersetzen, und nennen sie Politoffiziere im Priesterrock, weil sie den Rekruten die neue orthodox-patriotische Staatsideologie vermitteln. Muslime weisen darauf hin, dass sich hier wieder die Privilegien der Russischen Kirche zeigen, denn den muslimischen Soldaten stehen keine Geistlichen zur Verfügung.
Die mittlerweile auf Putins großrussisch-nationale Welle eingestimmte kirchliche Basis verlangte nachdrücklich die Kanonisierung der ermordeten Romanows, von denen bereits Ikonen kursierten. Außerdem übte Putin in diesem Sinne Druck auf seinen Freund, den Patriarchen, aus. Dem Präsidenten lag sehr viel daran, seine imperiale Staatsideologie durch einen heiligen Zaren der Neuzeit zu schmücken als glänzende orthodoxe Brücke zwischen dem russischen Kaiserreich und dem Reiche Putins. Hatte es Patriarch Aleksij noch abgelehnt, an der Beisetzung der Gebeine der ermordeten Romanows1998 mitzuwirken und seinen Bischöfen verboten an der Totenliturgie nur teilzunehmen, so beschlossen der gleiche Patriarch und die gleichen Bischöfe zwei Jahre später die Kanonisierung der Romanows. Dieser Vorgang symbolisiert eindrücklich das Miteinander von Kirche und Staat und die Instrumentalisierung der Kirche durch den Staat.
Nach der Wende entfaltete die Russische Kirche die These, die ehemalige Sowjetunion sei ihr angestammtes „Kanonisches Territorium“, wo nicht-orthodoxe christliche Kirchen, also auch die seit Jahrhunderten in Russland ansässigen Katholiken und Lutheraner, nur Gastrecht genießen. Sie dürfen hier nicht missionieren und schon gar nicht um glaubenslose Russen werben: Das sei „Proselytismus“. Auf den so genannten „religiösen Boom“ anfangs der neunziger Jahre, der freikirchliche Gruppierungen und Neureligionen aus dem Westen und dem asiatischen Südosten nach Russland spülte, reagierte die ROK reflexartig mit Abwehr. Das Religionsgesetz, das Jelzin im September 1997 unterzeichnete, entspricht genau dem Konzept des „Kanonischen Territoriums“ der ROK. Wie erwähnt, ist in der Präambel dieses Gesetzes die Orthodoxie als wichtigste Religion in der Russischen Föderation herausgestellt. Das Gesetz beschränkt neue Religionsgruppen auf dem „Kanonischen Territorium“ der ROK in ihren Entfaltungsmöglichkeiten.
Anfang Januar 2000 waren Jelzin und Patriarch Aleksij im Heiligen Land gewesen und hatten Yassir Arafat um wirksame Unterstützung beim Erwerb des fraglichen Klosters der Auslandskirche gebeten – mit Erfolg. Wenn die Russische Orthodoxe Auslandskirche und das Moskauer Patriarchat in diesen Monaten zur Einheit zu finden scheinen, dann ist zweifellos auch das ein Erfolg Putins. Die Schwesterkirchen hatten sich im Kalten Krieg zutiefst verfeindet. Putin aber ist an der Auslandskirche besonders interessiert, weil sie in aller Welt Gemeinden hat. Jedes russische Gotteshaus im Ausland muss eine Vertretung der Russischen Föderation werden, erklärte er 2003.
Das Moskauer Patriarchat erwies sich offenkundig lange als störrisch. Deshalb lud Putin die Bischöfe der Russischen Auslandskirche zum 24. September 2003 ins russische Generalkonsulat nach New York ein, als er an einer UNO-Vollversammlung teilnahm. Der Patriotismus der Auslandskirche traf sich glücklich mit Putins national-orthodoxer Staatsideologie und man verstand sich offenbar prächtig. Schließlich konnte auch die ROK den Wünschen Putins nicht entgegenstehen. Die vielleicht bevorstehende Vereinigung der lange verfeindeten Schwesterkirchen geht eindeutig auf die Initiative des russischen Präsidenten zurück. Bereits in seinem Rechenschaftsbericht zum Jahre 1997 hatte der Patriarch mit Blick auf das Verhältnis von Staat und Kirche erklärt: „Die Zusammenarbeit trägt gute Früchte!“ Von einer Staatskirche kann dennoch nicht die Rede sein. Die ROK muss sich damit abfinden, dass der Präsident zuweilen andere Prioritäten setzt: So ließ er nicht zu, dass Patriarch Aleksij an den beiden offiziellen Vereidigungen des Präsidenten teilnahm: Seinen Segen konnte der Patriarch nur gesondert in einer speziellen kirchlichen Feier spenden. Putins großrussisch-orthodoxe Staatsideologie verbrämt die Russische Föderation mit kirchlicher Gloriole.
Die Zusammenarbeit von Russischer Kirche und der Putin-Administration funktioniert gut. Davon profitiert zwar die Kirche in hohem Maße, wobei sie aber Gefahr läuft, vom Staat und seinen Repräsentanten instrumentalisiert zu werden. Gespeist werden diese religiösen Rechtfertigungsbezüge von der Vorstellung einer spirituellen Einheit des großrussischen Raumes. Historischer Bezugspunkt ist dabei stets der Verweis auf das mittelalterliche Bündnis slawischer Fürstentümer, die „Kiewer Rus“, welches in der russischen Historiographie nicht nur als direkter Vorläufer des heutigen Russlands, sondern auch als Ursprungsort der Russisch-Orthodoxen Kirche beschrieben wird. Deren aktuelles Oberhaupt Kyrill I., dessen vollständiger Titel „Patriarch von Moskau und der ganzen Rus“ lautet, proklamiert Russland, Belarus und die Ukraine deshalb bis heute als die „Heilige Rus“ und damit als spirituelle Einheit. Putin griff dieses Weltbild in seiner Rede an die Nation am 21. Februar wörtlich auf, indem er die Ukraine zum integralen Bestandteil des geschichtlichen, kulturellen und spirituellen Raums Russlands erklärte. Die Krim bezeichnete er bereits 2014 als "uns heilig wie der Tempelberg in Jerusalem den Juden und Muslimen heilig ist".
Mit dieser Vorstellung wird oft die Denkfigur von Moskau als „Drittem Rom“ verbunden, nach dem zweiten Rom, Konstantinopel. Diese im 16. Jahrhundert geprägte Idee stellte ursprünglich den Versuch einer heilsgeschichtlichen Aufwertung des neuen russischen Reiches dar und wurde erst im 19. Jahrhundert imperialistisch umgedeutet. Bis heute ist die inner-russische Wirkung dieses Narrativs umstritten. Moskau als „Drittes Rom“ wurde von der Propaganda des russischen Staatsapparats im aktuellen Konflikt zwar nicht direkt genutzt und ist innerhalb der Bevölkerung Russlands auch nicht sehr verbreitet. Trotzdem scheinen Motive der umgedeuteten Idee vom „Dritten Rom“ immer wieder in den Rechtfertigungszusammenhängen der russischen Führung durch und werden zur religiösen Untermauerung weltlicher Machtansprüche genutzt. Vor allem die territoriale Gleichsetzung von Moskau und der „Heiligen Rus“ sowie die damit einhergehende Aufwertung des russischen Großreichs begründen in den Augen Putins den Anspruch auf unabhängige Nachbarstaaten und dienen seiner Propaganda als Abgrenzung von äußeren Feinden des russisch-orthodoxen Christentums.
Das Motiv des Kampfes gegen eine vorgebliche Verfolgung und Unterdrückung russisch-orthodoxer Christen durch vom säkularen Westen inspirierte oder gesteuerte Mächte ist das zweite religiös aufgeladene Rechtfertigungselement russischer Propaganda im Ukraine-Krieg. In der Vergangenheit wurden bereits Einsätze des russischen Militärs in Syrien und anderen Staaten, vor allem aber die Anerkennung der „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk, mit einer Unterdrückung und Verfolgung von Christen begründet. Auch im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Ukraine spricht Kyrill I. von „dunklen und feindlichen äußeren Kräften“ und „Kräften des Bösen“, welche die Einheit der Gläubigen in Frage stellten. Putin behauptet, in Kiew würden „Gewaltakte gegen die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats“ vorbereitet.
Da Menschen nichts mehr vereine als der Glaube, werde die Religion oft zum Kriegsdienst einberufen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist hier keine Ausnahme. Es ist im Kern irrelevant, ob Putin tatsächlich glaubt, der Überfall auf die Ukraine sei eine heilige Sache. Entscheidend ist, dass er im Mythos vom heiligen Großrussland, im Kampf gegen eine vermeintliche Verfolgung von Glaubensbrüdern und in der angeblichen Sorge um die Einheit der Kirche gewichtige Argumente für eine Legitimation seines Angriffskrieges sieht und diese auch so verwendet. Die westliche Staatengemeinschaft sollte dies nicht nur interessiert zur Kenntnis nehmen, sondern auch an theologischen und historischen Gegennarrativen und Richtigstellungen arbeiten.
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